„Hier wird in Präsenz gelehrt“
(Kein) Zugang durch Digitalisierung
Die Corona Pandemie belastet(e) Studierende massiv: Anspannung, Isolation, Demotivation und (Existenz-)Ängste sind nur wenige von scheinbar endlosen Tiefen, über die ich mich mit Kommiliton:innen, Freund:innen und Bekannten austauschte und die wir zu überwinden versuchten. Irgendwo zwischen Spaziergängen, Tiger King, Quarantine-Self-Care und Bananenbrot wurde dann noch die Online-Lehre zwischengeschoben, die sich für alle Betroffenen, Studierende wie Lehrende, als Herausforderung erwies, die es mit allen Mitteln zu meistern galt. Fast drei Jahre Pandemie hinterlassen Spuren. Doch sind alle Spuren schlecht? Sollten alle Spuren bei Aussicht auf Besserung verwischt werden? Oder kann mühselig angeeignetes, technisches Know-how ein Schlüssel zu mehr Gleichberechtigung sein und bestimmten Personengruppen Zugang ermöglichen, der ihnen bisher verwehrt blieb?
Neben zahlreichen, offensichtlichen und allgegenwärtigen Einschränkungen gab die Corona Pandemie mir tatsächlich auch ein kleines Stück Freiheit: Die Online-Lehre. (Keine Sorge, dies wird kein Plädoyer für eine allumfassende Umstellung auf Online-Lehre, sondern die Beleuchtung einiger Aspekte, die ich als revolutionär empfand und die ich heute leider wieder misse.) Zur Zeit des reinen Online-Betriebs der Universität Bremen arbeitete ich in der Gastronomie. Das tat ich bereits seit ich 15 Jahre alt war, es war das was ich kannte, konnte und mochte und was mir das Studium finanzierte. Nicht nur die Gastro-Kinder unter euch wissen: Es war für uns kein Zuckerschlecken. Es vergingen Monate ohne Arbeit und in denen mit nahm ich selbstverständlich jede Schicht an, die mir auf Zuruf angeboten wurde. Was bedeutete das für mich? Um mich finanziell mit der Nasenspitze über Wasser halten zu können, musste jeder lukrative Grashalm ergriffen werden, jederzeit. Der Schlüssel um das zu tun, ohne dabei mein Studium zu vernachlässigen war… wer ahnt es? Die Online-Lehre! Ihre Facetten vielfältig, ihre Aneignung schwierig, ihr Potential riesig. Ich sparte Zeit durch nicht vorhandene Fahrtwege zu Zoom-Meetings, Kosten durch Online zur Verfügung gestellte Materialien und gewann an Flexibilität und Möglichkeiten durch asynchrone Vorlesungen. Die Online-Lehre schuf damit die Option, dass jede studierende Person jederzeit auf Lehrmaterial zugfreien konnte. Inhalte konnten so flexibel vor- und nachbereitet, vertieft und wiederholt werden.
Springen wir ins Hier und Jetzt: Der Coronavirus ist allmählich die neue Grippe, die entsprechenden Corona-Maßnahmen sind vergleichsweise minimal, die Lehre an der Universität Bremen ist wieder in Präsenz, die Vorteile der Online-Lehre vom Campus verbannt und ich bin als Werkstudentin im Büro tätig. Offensichtlich hat sich über die vergangenen Monate vieles verändert, doch was ist gleich geblieben? Ich bin nach wie vor neben dem Studium berufstätig und finanziell auf meine Beschäftigung angewiesen, sowie zahlreiche andere Student:innen an der Universität Bremen auch. Studierende mit Kindern haben nach wie vor Kinder, eventuell sind sie nach wie vor alleinerziehend. Chronisch kranke Student:innen sind nach wie vor chronisch krank. Studierende aus Nicht- Akademiker-Familien, Arbeiterkinder, kommen nach wie vor aus Nicht-Akademiker-Familien. Die Bedürfnisse und Möglichkeiten von Studierenden sind nach wie vor vielfältig und entscheidend. Nicht-kranke, nicht-berufstätige, aus Akademiker-Familien stammende Studierende ohne Kinder haben andere Bedürfnisse und Möglichkeiten, als jene die diesen Herausforderungen begegnen müssen. Die Digitalisierung der Lehre, mit Optionen wie der individuellen und flexiblen Bearbeitung, Wiederholung und Vertiefung der Lehrinhalte, oder dem Einsparen von Kapazitäten wie Zeit oder Geld, gab Studierenden die Möglichkeit sich ihren Bedürfnissen anzunehmen. Diese Optionen schufen mehr Gleichberechtigung unter Studierenden und ermöglichten Student:innen mit besonderen Bedürfnissen Zugang zum Studium.In den vergangenen Monaten, seit der Wiederaufnahme der Präsenz Lehre, fragte ich mehrere meiner Dozierenden danach, ob sie uns die Lehrmaterialien der Veranstaltung oder die Viedoaufzeichnungen vergangener Semester digital zur Verfügung stellen könnten oder ob sie Veranstaltungen, die in Präsenz stattfinden, online übertragen könnten. Ich verwies auf die vielfältigen Bedürfnisse von Studierenden und die Chancen für diese, die durch diese Angebote entstehen. Die Antwort, die ich am häufigsten hörte, war: Nein, das würde nicht gehen, denn „hier wird in Präsenz gelehrt“. Warum sollen die vielfältigen Bedürfnisse von Studierenden keine Beachtung finden? Warum soll diesen Studierenden kein Zugang ermöglicht werden? Warum ist die Lehre an der Universität auf eine ganz bestimmte, privilegierte Minderheit ausgerichtet? Wenn es sich um ein bewusstes Verwehren von Zugang für bestimmte Studierende, insbesondere jene, deren Bedürfnisse sich aus ihrer sozialen oder ökonomischen Situation und Herkunft ergeben, handelt, dann ist die Antwort vielleicht: Klassismus.
Ich habe Lust auf einen Dialog mit euch! Was sind eure Gedanken zu dem Thema „(Kein) Zugang durch Digitalisierung“? Zeitpunkt: jederzeit. Treffpunkt: Kommentarspalte.
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